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E R H O L U N G

Verkehrsamt auf Nudistenfang

Französische Tourismuswerber wollen FKK-Urlauber von der Ostsee an die eigenen Küsten locken. Auf Rügen spendieren sie Croissants und Frisbeescheiben

 

Von Jan Kahlcke

Bäuchlings liegt Karsten auf dem Klüverbaum, starrt konzentriert durch sein Fernglas, mustert jeden einzelnen Badegast an der Küste eingehend. »Da vorn, da sind welche«, meldet er, »ist aber ziemlich gemischt.« Also nicht genau die Zielgruppe, auf die sie es abgesehen haben.

Früher war die Schaabe an der Nordostküste Rügens reiner FKK-Strand, sieben Kilometer weißer Sand, kein Fetzen Stoff. In den letzten Jahren kommen immer mehr »Textiler« her, wie es hier stets ein wenig distanziert heißt. Nach der Wende waren viele Stammgäste erst mal in andere Länder gefahren, die neue Reisefreiheit genießen. Als sie an »ihre« Ostsee zurückkehrten, trauten sie ihren Augen kaum, ob der textilen Invasion aus dem Westen. Heute haben die meisten Seebäder ihren Hauptstrand für bekleidete Gäste reserviert. Häufig werden die Nackten sogar hinter den Hundestrand verbannt.

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Aber jetzt naht Rettung, seeseitig: Karsten ist mit der Nacktenquote zufrieden, gibt das Signal zum Landgang. Das kleine Beiboot wird klargemacht.

Hätten die Strandbesucher ein Fernglas, sie könnten ahnen, was sie erwartet. »Willkommen in Frankreich« steht etwas zu klein auf einem Transparent zwischen den beiden Masten des niederländischen Schoners Catherina, 1920 als Minenräumer gebaut. Nun will die Catherina eindeutig zivil landen, aber mit einem Überraschungseffekt wie einst die Alliierten in der Normandie. Die Planung ist generalstabsmäßig vorbereitet. Karsten schwimmt schon mal voraus, sondiert inkognito das Terrain.

Kaum ist das voll bepackte Beiboot auf den Strand gezogen, greift er zum Megafon. Splitterfasernackt spricht der Animateur zur überraschten Strandbevölkerung: »Mesdames et Messieurs, dürfen wir Sie ssu uns einladdön, wir abbön ein gleinö Uberraschüng für Sie vorrbereitöt.« Hinter seinem Rücken entsteht in Windeseile eine Filiale des französischen Fremdenverkehrsamts. Auf zwei Tischen stapeln sich Prospekte, Getränke, T-Shirts, Sonnenhüte, Frisbeescheiben - alles Marke »Willkommen in Frankreich«.

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Der Strand erwacht aus seiner mittäglichen Lethargie. Nach einem Vormittag unter der sengenden Augustsonne ist eine Abwechslung willkommen. Die ersten Neugierigen nähern sich zaghaft. »Wat is dat?« - »Irgendwas mit Natur und Frankreich«, übersetzt die große Schwester das Werbebanner für Naturisme en France irgendwie richtig. Der Duft beseitigt den letzten Zweifel: tatsächlich, warme Croissants. Und was es mit der Natur auf sich hat, erklärt der Blick auf die Broschüre FKK in Frankreich - oder auf die Zipfel der Animateure, die gleich dahinter hängen.

»Kein Portemonnaie dabei«, sagt ein braun gebrannter Nackedei und zuckt mit den Achseln, wie zum Beweis, dass sich darunter nichts verbirgt. Der vierschrötige Brecht bricht den Bann. Der junge Belgier, von der Natur prächtig ausgestattet, teilt ungeniert französische Hörnchen aus. Es gibt etwas umsonst! Bald ist der Info-Stand nicht mehr zu sehen vor lauter Haut. Feste Haut und schlabbrige, sandige und frisch geölte. Handtuchmuster. Tätowierungen. Dürre Jungen zeigen ihre Rippen, die Mutter den Kaiserschnitt dazu. Faltengebirge, die bei jedem Schritt mitwogen. Und immer wieder übel verbrannte Hintern von Gelegenheitsnackten.

»Ich bade hier seit 1970 nackt«, sagt ein stattlicher Mittsechziger aus dem Thüringischen. Das nackte Strandleben ist für ihn der Inbegriff von Freiheit. Ein noch älterer Kämpe für die nackte Sache, nur mit einer »Willkommen in Frankreich«-Jutetasche bekleidet, erinnert sich an 1953, offenbar nicht nur in Ost-Berlin ein heißer Sommer: »Damals gab es hier auf der Schaabe 300 Meter FKK-Strand. Wir haben uns mit ein paar Jungs untergehakt und den Textilstrand aufgerollt.« Nur wenn die Vopos kamen, hieß es kurz: Hosen an. »Abends waren alle nackt.« Das FKK-Schild wanderte jedes Jahr ein Stückchen weiter, bis es irgendwann ganz verschwand - zusammen mit den letzten Textilern. Ein Brandenburger, als »gelernter Ostdeutscher« quasi naturgemäß FKK-Fan, erzählt wehmütig, wie sie hier früher Spaziergängern die Hosen runtergezogen haben. Glückselige Zeiten: »Am Strand waren alle gleich. Da hat der Generaldirektor genauso im Sand gehockt wie seine Werktätigen.«

Für die Stammgäste ist die Ostseeküste kein Reiseziel unter vielen: Hier werden die Sommerferien zur Reise in eine sorgenfreie Vergangenheit. Ostsee, das ist das mare nostrum der Ostdeutschen. Das ist Zuhause. Nacktsein ist Ausdruck von Vertrautheit und Gemeinschaft. Man kennt sich und lagert in großen Gruppen am Strand.

Schwierige Bedingungen für die Tourismusförderer aus Frankreich, die hier für 45 abgeschlossene Anlagen des Club Naturisme werben, vom Campingplatz bis zum All-Inclusive-Hotel mit Entertainmentprogramm. Frankreich zieht im Jahr eine Million FKK-Touristen an - so viele wie kein anderes Land der Welt. Aber die Konkurrenz in Kroatien, Spanien und der Karibik holt auf. Wo könnte man zielgenauer werben als in dem Gebiet mit der größten Dichte von Nacktbadern in Europa? »Wir haben in Ostdeutschland ein Imageproblem«, sagt Émanuel von der Maison de la France. Eine Interessierte bringt es auf den Punkt: »Können wir denn da auch ein bisschen Deutsch sprechen?«, fragt sie schüchtern. »Sehen Sie mich an, ich bin auch Franzose«, pflegt Émanuel dann zu antworten, der neben dem Schummelfranzosen Karsten manchmal für einen Deutschen durchgeht.

Die französische Charmeoffensive kommt an. »Mutig« findet ein älterer Herr die Invasion auf so »durch und durch deutschem Territorium«. Viele stopfen sich die Taschen mit Broschüren voll, die Bäuche mit Croissants. Ein tätowierter Fernfahrer aus Rostock schwärmt von den Franzosen: »Die sind viel offener, viel lockerer als die da.« Seine abfällige Handbewegung trifft eine Gruppe Textiler, meint aber: die Westdeutschen. Schließlich sagt er: »Wer hier wohnt, müsste doch einen Knall haben, im Sommer in ein anderes Land zu fahren.«

Selbst wenn es nicht zum nackten Exodus nach Frankreich kommt: Zumindest ist in einer halben Stunde ein Stück »Völkerfreundschaft« gelungen, wie es hier früher hieß.